Warum die Kindheit politisch ist
Artikel von Herbert Renz-Polster
Quelle: https://www.kinder-verstehen.de/mein-werk/blog/warum-die-kindheit-politisch-ist/
Das derzeit heißeste politische Thema: der zunehmende Erfolg von „rechtspopulistischen“ Parteien in Europa. Deren Markenkern ist neben dem Populismus (der findet sich auch bei anderen Parteien) das dort ausgestellte autoritäre Denken – also der so genannte Autoritarismus. Was ist damit gemeint, und woher kommen diese Haltungen?
Unter Autoritarismus wird die Neigung von Menschen beschrieben, sich in eine Hierarchie von Führenden und Geführten einzugliedern, und gleichzeitig diejenigen abzuwerten, die nicht zur eigenen Gruppe gehören – andere Ethnien etwa oder Angehörige anderer Religionen. Gleichzeitig wird Halt in einer festen Ordnung aus Konventionen und Regeln gesucht und die eigene moralische Überlegenheit herausgestellt. Ein solches Denken findet sich nicht nur in der politischen Arena (und dort sowohl auf der rechten wie auch auf der linken Seite), sondern auch in religiösen Gruppen und Sekten aller Art.
Das “Missing Link”
Als Erklärung für autoritäres Denken werden oft äußere Umstände angeführt. Etwa, dass Menschen wirtschaftlich in Not geraten, sozial absteigen, oder sich durch den raschen gesellschaftlichen Wandel fremd in der modernen Welt fühlen.
Dass diese Erklärungen nicht ausreichen, zeigen schon die Parteienvergleiche: die AfD ist nicht weniger eine Mittelschichtspartei ist wie etwa die SPD oder auch die CDU. Auch unterscheiden sich die AfD-Anhänger weder im Bildungsniveau noch im Bezug von Transferleistungen von der Durchschnittsbevölkerung. Offenbar bleiben die rechten Ideen bei nach außen identischen Rahmenbedingungen bei manchen Menschen haften. Bei anderen dagegen nicht.
Identität statt Realität
Auch die politische Programmatik spricht gegen eine rein „äußere“ Bedingtheit für autoritäre Haltungen. In ihrem Kern dreht sich die Agenda nämlich nicht um die Behebung real erlebter oder zu erwartender Missstände – etwa der Klimakatastrophe, dem Wohnraumproblem oder der immer krasseren sozialen Ungleichheit. Vielmehr geht es überraschend häufig um Kopftücher, den Islam, das “Abendland”, die Flüchtlinge, die „Lügenpresse“, die angeblich woken Grünen, um Frühsexualisierung, Geschlechtsidentität oder die Bedrohung durch Kriminalität oder auch Wölfe. Der Klimawandel wird als „natürliches Phänomen“ akzeptiert, abgeschafft werden sollen die Gendersternchen. Kurz: Es geht um Identität statt Realität.
Sehnsucht nach Stärke, Sehnsucht nach Heimat
Und da sind noch mehr offene Fragen: Woher kommt der absolute Markenkern aller autoritären Parteien, nämlich die Sehnuscht nach mächtigen, starken Männern? Wie zentral dieser Hang zur autoritären Unterwerfung ist, zeigt sich etwa im Putin- oder auch Trump-Kult auf der stramm rechten Seite.
Und warum fühlen sich vor allem Männer von der rechten Programmatik angesprochen?
Und warum grassiert Fremdenfeindlichkeit ausgerechnet dort am meisten, wo es am wenigsten Ausländer gibt?
Und warum ist die Meinung, Spielball von Mächtigeren zu sein, also das eigene Leben nicht selbst bestimmen zu können , ausgerechnet bei den rechtspopulistisch Gesonnenen am weitaus stärksten ausgeprägt? Und woher die viel stärker ausgeprägte, vom eigenen Status und Einkommen unabhängige Unzufriedenheit mit dem eigenen Dasein ? Woher das intensive Misstrauen ?
Und vor allem: Warum sind bei den Rechtspopulisten gerade in den Führungsrängen so oft Menschen anzutreffen, die man beim besten Willen nicht anders als „schwer beschädigt“ bezeichnen kann – von Hitler bis Trump. Menschen, die all das vereinen, was die meisten Eltern ihren Kindern niemals wünschen würden: Rücksichtslosigkeit, Hass, fehlende Empathie, ungezügelte Aggressivität, fehlende Kompromissbereitschaft, Verachtung für Schwächere und geringe soziale Kompetenz? Wie kann es sein, dass sich erwachsene Menschen solchen offenkundigen Blindgängern an die Brust werfen?
Die Kindheit ist politisch
Wo bildet sich dieses Muster, das nach Auskunft der Sozialpsychologen so deutlich von Angst, Misstrauen, Unsicherheit und auch geringeren Empathiewerten unterlegt ist? Woran lesen Menschen ab, ob sie sich vor der Welt fürchten müssen oder ob sie vertrauen können? Wo erfahren wir, ob Wohlwollen und Kooperation geeignete “Lebensinstrumente” sind – oder ob wir besser auf Konkurrenz, Strenge und Ausgrenzung setzen?
Diese Muster, hier sind wir bei einer zentralen Grundannahme der Entwicklungspsychologie, bilden sich dort, wo wir zum ersten Mal die Ordnung der Welt kennenlernen – in der Kindheit. Hier werden wir zum ersten Mal “regiert” – und lesen daran ab, wie die uns Überlegenen mit Macht und Herrschaft umgehen. Ja, hier erleben wir überhaupt, worauf sich Beziehungen gründen: ob auf Vertrauen und Kooperation – oder auf Überlegenheit und Stärke. Und auch das erfahren wir in dieser Zeit: Ob die Welt ein Kampfplatz ist, oder eine Heimat. Ob sie trägt oder ob wir jederzeit verstoßen werden können. Ob wir eine Stimme haben oder “hörig” sein müssen und uns deshalb besser einem „Führer“ unterwerfen.
Tatsächlich verhandeln wir in der Kindheit ja genau die Themen, um die sich die autoritäre Agenda mit ihrem „great again“ oder „take back control“ in ihrem Kern dreht: Sicherheit, Anerkennung und Zugehörigkeit. Um diese Themen dreht sich das Rad der Kindheit und das ganz banale Miteinander in der Familie und die Kinderwelten: Bin ich okay? Schützen die Großen mich, wenn ich in Not bin? Oder lassen die mich allein? Kann ich mitgestalten oder muss ich immer tun, was andere mir vorgeben? Bin ich immer klein und den Mächtigeren ausgeliefert, oder erlebe ich Wert und „Größe“? Bin ich der Welt gewachsen, oder bin ich beständig überfordert und gestresst? An den Antworten, die Kinder auf diese Fragen bekommen, eicht sich der Kompass, mit dem sie die Welt gestalten werden. Zeigt er auf Vertrauen? Oder auf: Vorsicht, pass auf!? Sehe ich die Welt als gebenden Ort – oder als Kampfplatz? Kurz: Trage ich in mir das Grundgefühl einer “Heimat” – oder fühle ich mich heimatlos?
Autoritäre Erziehung – autoritäre Politik
In meinem Buch „Erziehung prägt Gesinnung“ sichte ich das dazu verfügbare empirische Material. Hier will ich nur zwei Zusammenhänge anführen: Wirft man ein grobes Raster über die Erde und lässt darauf die Dikaturen und Oligarchien aufleuchten, dann decken sich diese politischen Hotspots ziemlich genau mit einer anderen Landkarte – nämlich der von der UN und anderen Organisationen erstellten Landkarte widriger Kindheiten: Wo Kinder schlecht behandelt werden, hat der politische Autoritarismus leichtes Spiel. Eine noch eindrücklichere Landkarte liefern die USA: Ordnet man die Zustimmungsraten der Bürger zur körperlichen Züchtigung von Kindern in eine Rangfolge, so sind die 22 höchstplatzierten Bundesstaaten allsamt republikanisches Kernland: Strenge Vorstellungen von Erziehung münden in strenge Vorstellungen von Politik.
Und damit bin ich bei der Grundthese meiner Arbeit zum Rechtspopulismus: Menschen, die in ihrer Kindheit gute Antworten auf ihre Entwicklungsfragen bekommen sind vor den Verlockungen des autoritären Denkens geschützt. Diejenigen, denen gute Antworten hartnäckig verweigert werden, werden dadurch auf eine lebenslange Suche nach Ersatz geschickt: Die Sicherung, die sie innerlich nicht erfahren haben, suchen sie dann im Äußeren: make me great again! Sie sind verletzlich. Auch gegenüber den Verheißungen des Rechtspopulismus. Die fehlende Sicherung in der Kindheit, das ist das fehlende Glied, den es für den Rechtsruck braucht.
Dieser Artikel ist in etwas kürzerer Fassung auch bei Kinderschutz. Das Magazin, 2/24 erschienen.
Eine längere und mit Literaturhinweisen versehene Version dieses Artikels findest Du hier.